NICHT ABGESANDT am 6. Februar 2020 An die ferne Geliebte Mein liebes Kind, Entschuldige bitte diesen Angriff auf Deine Einsamkeit. Ich bin mir sehr wohl bewusst, wie weit entfernt einen weiteren Brief von mir zu empfangen es von Deinem eigentlichen Verlangen ist, nämlich auf einem Stuhl auf der Concertgebouwbühne mit Deinem Cello zwischen den Knieen, mit dem Bogen in Deiner rechten Hand, den Auftakt des Dirigenten zu erwarten. Wohl bemerkt, dies ist ein Brief an eine ferne Geliebte, tatsächloch, wie sein Vorbild, ein Brief an eine unendlich weit entfernte Geliebte, denn im Alter von neunzig Jahren wäre ein Brief an eine nahe Geliebte Bezeugung prima facie von zumindest beabsichtigtem Betrug. Ich habe vergebens versucht mit Versen in iambischem Pentameter mir den Weg zu Chronos freizulegen oder zu bauen, aber es ist mir nicht gelungen, vielleicht weil es zu schwierig ist, ungestalte Gedanken in die Strömungen unbestimmbarer Winde, von denen man nicht weiß woher sie kommen oder wohin sie sich verziehen, auszuhauchen. Hingegen finde ich es anregend an Dich einen Brief aufzusetzen und Dir mein Denken zu erzählen, selbst wenn am Ende ein solcher Brief zu blöd erscheint um abgesandt zu werden. Mit der Physik kam ich zum ersten Mal als 15 jähriger Abiturient in der Germantown Friends School in Berührung. Ich war der jüngste und fähigste Schüler in der Physikklasse, begeistert und bezaubert von der Gelegenheit die Welt die mich umgab mit rechnerischen Formeln die mir selbstverständlich schienen, auszumessen. Ich war nun entschlossen auf der Universität Physik zu studieren. Es kam aber anders, denn auf der Universität wurde ich nicht nur mit höherer Mathematik sondern zu gleicher Zeit mit Literatur, mit Dichtung und mit Philosophie vertraut, mit Vorstellungen die mir um vieles zwingender schienen, als die anschauungslose Symbolik der integral und differential Rechnung, welche anfing auf enttäuschende und bedrückende Weise mich zu langweilen. So vieles Andere schien mir erbaulicher, und, wenn ich es aussprechen darf, geeigneter mich vor den Alltagsplagen zu schützen, wenn nicht gar mich von ihnen zu erlösen. Als ich diesem Disinteresse zufolge das erste Mathematikexamen vorbeigeschrieben hatte, wurde mir klar wie wenig das Physikstudium mich zufriedenstellen würde, und wie erheblich die Gefahr eines Scheiterns aus langer Weile. Ich sattelte um auf die Gebiete der Literatur und Geschichte, mit dem Vorbehalt der Möglichkeit an einem künftigen Tage zu den Grundfragen der Physik die mir damals, insofern ich sie überhaupt ahnte, undurchdringlich verschleiert schienen, zurückzukehren. Für den Versuch, heute, nach 74 Jahren, auf umwegigen, unkonventionellen Pfaden zur Physik zurückzukehren, wage ich folgende Erklärung: Mein Studium von philosophischen, historischen und literarischen Schriften hat mich zu folgenden Beschlüssen geführt: Erstens, dass die einzige Urgewissheit auf die ich mich verlassen darf, schlicht und einfach mein Erleben ist, das Denken, Fühlen und Empfinden das mir den Augenblick, das mir die vorläufig unbestimmt begrenzte Gegenwart sinnvoll macht. Zweitens, dass die jeweilige Beschaffenheit meines Gemüts nicht nur als Ausdruck des Erbguts und der lebenslangen Reibung an der Außenwelt, sprich, Erfahrung, verstanden werden muss, sondern in hohem Maße als Folge der Vergesellschaftung und der Gesellschaft, mit anderen Worten, als Erscheinung (Manifestation) der Herde und als Ausdruck des Herdeninstinkts. So entwickelt sich, meinem Verstehen gemäß, die Sprache (ausschließlich) aus gesellschaftlichen Umständen, aus den Notwendigkeiten von zwei oder mehr Menschen sich zu verständigen. Die Mathematik erscheint auf dieser Szene als ein Symbolinstrument welches über die Sprachverständigung weit hinaus greift indem die Mathematik nicht nur Mitteilung (von Erfahrungen) bewirkt, sondern ein identisches geistiges Verhalten und identetische geistige Handlugen (Vorgänge) von mehreren einzelnen Menschen erzwingt. Die Musik hat manche Ähnlichkeiten mit der Musik, ins Besondere, das Duet, Trio, Quartett, und darüber hinaus die Kammer- Orchester-und Opernmusik erfordern in einer Weise ähnlich und vergleichbar mit der Mathematik, die zwangshafte erzwungene Gleichheit der Handlungen, z.B., die Eindeutigkeit des Takts, die Übereinstimmung der Töne, durch quasi-gemeinsame Bogenstriche, Trompetenstöße, Paukenschläge, wie sie sich aus dem Zusammenwirken einzelner individueller Menschen ergeben. Drittens, die Sprache als Verständigungsinstrument, als Geschichte, als Märchen, als Mythos, bewirkt unter den Menschen die sie hören und sprechen das Bewusstsein einer virtuellen Wirklichkeit; einer vom einzelnen Menschen nie erlebte, künstliche, imaginäre, wirtuelle Wirklichkeit welche sich selbst bestätigt oder zu bestätigen scheint. Diese virtuelle Wirklichkeit umschließt (ist, beinhaltet) nicht nur den geistige Raum des Zeitungsberichtes, der herkömmlichen Geschichte und der Geschichtswissenschaften; sie liefert auch den Wirklichkeitsraum auf welchem die Naturwissenschaften, einbeschlossen die Chemie und in gegebenem Fall, die Physik, sich verlassen. Ins Besondere: Der Begriff der Zeit ist ein Geschöpf der genannten virtuellen Wirklichkeit, oder vielleicht genauer, ist ein Geschöpf des Bewusstseins dieser virtuellen Wirklichkeit. Viertens, erst die soeben beschriebene aus dem Einzelerleben und aus der Einzelerfahrung abgeleitete analytische-synthetische virtuelle Wirklichkeit bietet den Standort, die Plattform, die Bühne, bietet die geistige Möglichkeit für die Beschreibung und Erklärung des Erlebnis-Begriffes der Zeit. (Ich meine, das Erleben der Zeit schlägt im Begriff der Zeit nieder, und der Begriff der Zeit wird wirklich-lebendig indem der Einzelne ihn sein anderes Zeit-Erleben erweiternd in dieses einfügt.) Was heißt Zeit? Demgemäß ist der triftige Denkansatz (approach) zum Zeitberiff ein philologischer, nicht wie man gewöhnlich voraussetzt, ein physikalisch mathematischer. Zeit ist ein Wort das ich als Kind mit dem Sprachschatz des Elternhauses übernommen und mir angeeignet habe. Es schöpft seinen Sinn aus den Umständen unter denen es ausgesprochen wird, und auf die es weist. Es lässt sich übersetzen ins Englische als "time", ins Französische als "temps", ins Lateinische als "tempus", ins Griechische als Chronos. Bemerkenswert ist es, wie die Bedeutung des Wortes Zeit in der Muttersprache schwankt, umso mehr die Bedeutungen der vermeintlich wortgetreuen Übersetzung in eine andere Sprache. So sagt man im Englischen: every time the sun rises. Auf Deutsch heißt es nicht jede Zeit, sondern: jedes Mal wenn die Sonne aufgeht, und im Französichen: nicht Chaque temps, sondern chaque fois. In Anbetracht solcher Veränderlichkeit, habe ich mir die genaue Begriffsbestimmung, die Antwort auf die Frage, wie "Zeit" ausgelegt werden sollte, vorbehalten. Meinem Empfinden und Gebrauch gemäß, ist Zeit ein Erlebensströmen das weder Anfang noch Ende aufweist. Andere Begriffsbestimmungen von Zeit sind denkbar. Ich überlasse sie anderen. Mein Vorgehen bewinnt historische Bestätigung mit der Tatsache dass, dem Mythos gemäß, Chronos weder Anfang noch Ende hat, weder Vater noch Mutter aufweist. Meine Bestimmung von Zeit als Fluss, fordert supplementäre Bestimmungen von Zeitspannen, von Zeitpunkten, von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Ich weise darauf hin, dass es möglich ist die genannte Zeitproblematik durch verwickelte mathematische Vorgänge und Berechnungen zu verschleiern, nicht aber sie aufzulösen. am 6. Februar 2020 Ähnliche Erwägungen wie bei der Konstatierung der Zeit aus Sprache, aus Erinnerung, aus unmittelbarem Erleben, aus den Gefühlen, aus dem Denken, aus gesellschaftlicher Mitteilung, aus kumulativer Mitteilung zwischen Gesellschaftsmitgliedern ... walten auch bei der Feststellung, bei der Konstatierung der Attribute, Eigenschaften, Anhängsel des Zeiterlebnisses; entstehen und bestehen außerhalb jeglichen Rahmens der Wissenschaft, werden dann aber in akademischer Umgebung und infolge akademischer Bemühungen gesondert und verfeinert (refined) und werden dann zu formellen (mathematisch gefärbten) Begriffen welche hinfort (aber irrtümlicher Weise) das (Zeit)Erleben zu begründen, unterhalten (maintain) und zu bestimmen (controllieren). Ich meine spezifisch jetzt, einst, vergangen, zukünftig, gegenwärtig, bestehend, bleibend, vergänglich. Diese und viele andere ähnliche Worte in den deutschen, englischen, französischen, lateinischen, griechischen Sprachen worin meine linguistischen Kenntnisse bestehen, und bedeutsamer noch mir unbekannte Worte in mir fremden Sprachen erweitern das Spektrum einschlägiger Zeitbegriffe ins unüberschaubare. Die Voraussetzung (presumption) sie alle aus einem mathematisch physikalischen Urbegriff der Zeit abzuleiten, oder auch sie auf einen solchen zurückzuführen ist ein Witz. Jetzt gilt es die verschiedenen Worte/Begriffe in denen das Zeiterlebnis niederschlägt einzeln zu beschreiben, diese Ausdrücke auf das vielfältige Erleben zurückzuführen, und zu untersuchen wie mathematisch wissenschaftliche Begriffe der Zeit sich aus dem Erleben entwickelt haben, und dies Erleben künftig zu kontrollieren und zu erweitern beanspruchen. Die Hermeneutik des Zeitverständnisses möchte dann als Muster für die Hermeutik der weiteren Physik dienen, und darüber hinaus, für die Hermeutik der Erkenntnisvorgänge überhaupt. Bei all diesen Überlegungen ist es unvermeidlich, dass die Überlagerungen von Ich und Wir, vom Einzelnen und von der Gesellschaft eine bedeutende Rolle spielen, eine Rolle welche ich vorerst unbetrachtet lasse, welche ich jedoch später bei passender Gelegenheit untersuchen möchte. Was heißt Gegenwart? Unbestreitbar sind Erleben und Begriff von Gegenwart die unmittelbarste Gegebenheit der Zeit; und doch scheint (schon) am Anfang der Betrachtung die Unterscheidung von Gegenwart und Zeit, problematisch; indessen der Versuch ihr nachzuspüren zu dem Beschluss führt, dass diese Unterscheidung undurchführbar ist, dass Gegenwart und Zeit sich nicht von einander trennen lassen. Wenn wir dennoch zwei Worte benötigen um das Einzige zu bedeuten, so sollte diese Anomalie auf die Tatsache weisen, dass der Zeitbegriff, und somit das Zeiterleben mit bisher unbemerktenten und unerkannten Widersprüchen behaftet sind, deren Enthüllung ich - und wir - uns nicht länger entziehen sollten. Dass der Höhepunkt der Gegenwart "jetzt" ist, erlaubt keinen Zweifel, bleibt jedoch ohne "genaue" Feststellung was "jetzt" bedeutet, nur ein Wort, ein Begriff vorerst lediglich im Bereich der Sprache. Die Frage ob "jetzt" über eigenen Inhalt verfügt mutet mich an als fast albern. Denn meine Handlung verbürgt das Jetzt; und umgekehrt. Ohne das Jetzt ist meine Handlung unmöglich. Abwesend meine Handlung, erlischt das Jetzt. So erscheint, so ergibt sich das Jetzt als Schnittbereich von Ich und Welt, als Mittlung zwischen Subjekt und Objekt, zwischen Innen und Außen. Wenn "jetzt" über eigenen Inhalt verfügen soll, muss "jetzt" ein Ausmaß besitzen. Anderweitig ist wäre es nichts als Trennungspunkt zwischen Vergangenheit und Zukunft. Weder in der Vergangenheit, noch in der Zukunft vermag ich zu handeln. Demzufolge muss es eine mit Ausmaß behaftete Gegenwart geben. Demgemäß bestimmt meine Handlung meine Gegenwart. Möchte es auch umgekehrt sein, dass die anderweitig unzugängliche Gegenwart die Handlung bestimmte? dass die anderweitig inaccessible, indefinable, unbestimmbare Gegenwart durch die Handlung gesetzt, begrenzt, bestimmt würde. Es wird klar, es wird offenbar, dass es sich um Annäherungen, um Approximationen handelt, in Bezug auf das Ausmaß der Gegenwart, sowohl auch wie in Bezug auf die Art, Bestimmung, Begrenzung, und Definition der Handlung. Es wird weiterhin offenbar und klar, dass zwischen dem Erleben, dem Erlebten und dessen sprachliche Beschreibung, Bezeichnung, Bestimmung, Begrenzung, Definition, eine Kluft, eine Mauer, ein Graben von Unbestimmtheit und letzten Endes auch Unbestimmbarkeit besteht. Eben, jetzt, an diesem Punkte im Verlauf der Zeit, will es mir scheinen dass der Weg zu Chronos zu einer breiten DMZ der Gedanken führt wo Gegenwart und Handlung einander gegenüber liegen ohne sich zju berühren; und die DMZ die Unmöglichkeit eines Vergleichs beurkundet, beweist. Das Wort Gegenwart besagt und betont die unmittelbar gegebene Notwendigkeit der anderweitig ungreifbaren (inaccessible) unzugänglichen Zeit fürs Leben, fürs Erleben und für die Handlung. Das Wort Vergangenheit besagt und betont die unerbittliche Unerreichbarkeit des Gewesenen und dennoch mittels der Erinnerung im Geist bezeugten und verankerten. Das Wort Zukunft besagt und betont die unerbittlichliche Unerreichbarkeit des noch nicht Seienden und des vielleicht niemals Seienden; und somit beurkundet das Wort Zukunft die pathetische Unvollkommenheit und Unzulänglichkeit des gegenwärtigen Erlebens.